Oscar 2022: Was bleibt? Will Smiths Backpfeife und andere stumme Gesten (2025)

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Oscar 2022: Was bleibt? Will Smiths Backpfeife und andere stumme Gesten (1)

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Noch kurz vor Beginn der Show hatte Will Packer, Produzent der 94. Oscarverleihung am Sonntag in Los Angeles, sich äußerst zuversichtlich gezeigt: »It will be a lot of things tonight, but it will not be boring«, sagte er auf dem roten Teppich ins Mikrofon des stets wackeren ProSieben-Reporters Steven Gätjen: Es werde vieles sein, aber nicht langweilig. Nun ja.

Zunächst schien sich Packers Hoffnung zu erfüllen: Die Gala im Dolby Theatre an der Kreuzung Hollywood Boulevard und Highland Avenue begann visuell überwältigend mit einem Auftritt des R&B-Superstars Beyoncé – allerdings einige Kilometer von Hollywood entfernt, auf den Tennisplätzen im berühmt-berüchtigten Schwarzenviertel Compton, wo einst die Schwestern Venus und Serena Williams für ihre spätere Weltkarriere in einem Sport trainierten, der bis dato Weißen vorbehalten gewesen war. Die Sängerin und ihr vielköpfiges Orchester waren, samt Instrumenten, in sanftes Grün gekleidet und getüncht. Die Farbe des Tennisrasens, aber auch der Hoffnung. Ein geschickter Zug von Packer, der die Show mit einem nur aus Schwarzen bestehenden Team produzierte – und mit diesem Außenset das gettoisierte Compton ins feine Hollywood holte.

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Gespielt wurde der für einen Oscar nominierte Song »Be Alive« aus dem Film »King Richard«, der davon erzählt, wie der Vater von Venus und Serena verbissen alles daran setzte, seine Töchter zum Ruhm zu führen, ohne sie zu verheizen. Das rührende und packende Familiendrama war auch als einer der zehn besten Filme nominiert, doch es war klar, dass »King Richard« vor allem den Hauptdarsteller-Preis gewinnen würde: Will Smith galt als gesetzt, für die Rolle seinen ersten Oscar zu bekommen. Und so kam es dann auch. Aber zuvor sorgte Smith noch für einen handfesten Oscar-Eklat, als er dem Komiker Chris Rock auf offener Bühne eine Backpfeife verpasste, weil er Smiths Ehefrau beleidigt hatte.

Das war ganz sicher nicht das, was sich Packer und sein Team unter größtmöglicher Repräsentanz von black culture vorgestellt hatten. Das Tragische an dieser Oscarverleihung ist, dass diese Ohrfeige, die in der bald hundertjährigen Geschichte der Academy Awards wohl ohne Beispiel ist, von ihr in Erinnerung bleiben wird. Zu dieser Tragik gehört aber eben auch, dass die Show nach einem schwungvollen Auftakt in Erwartbarkeit, zu vielen Werbepausen und Langeweile zu erstarren drohte, wäre sie nicht durch Smiths Handgreiflichkeit aus ihrem dahinschnurrenden Schlummer gerissen worden.

Viel Diversität auf der Bühne

Nach der im vergangenen Jahr wegen der Coronapandemie stark eingeschränkten und letztlich quotenschwächsten Oscarzeremonie aller Zeiten sollte nun, von Maskenzwang und Abstandsregeln befreit, das große Spektakel und die Publikumsbegeisterung zurückkehren. Es gab nicht nur wieder einen Host, sondern gleich drei: Amy Schumer, Regina Hall und Wanda Sykes, zwei schwarze Frauen und eine weiße, die zu Beginn den richtigen, humorvollen Ton fanden. Sie rissen Witze über toxische Männlichkeit, schlecht bezahlte Frauen in Hollywood, das umstrittene »Don't Say Gay«-Gesetz von Florida und die im Vorwege kritisch diskutierte Verbannung von acht vorwiegend handwerklichen Preiskategorien aus der Livesendung.

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Comedienne Schumer ließ sich später sogar in ein Spider-Man-Kostüm stopfen und von der Decke baumeln, Lockerungsübungen, die der Show sehr gut taten. Auch bei der Auswahl der zahlreichen Preis-Presenter bewies Packers Team ein gutes Händchen: So viel Diversität, so viele Frauen, Latinos und Latinas und Schwarze gab es wohl noch nie auf der Bühne, da fiel am Ende gar nicht mehr auf, dass in diesem Jahr gar nicht so viele weibliche und nicht weiße Kreative nominiert waren oder ausgezeichnet wurden.

Die Show wirkte frustrierend zerstückelt

Weniger clever war die besagte Auslagerung von Kategorien wie Sound, Score oder Schnitt in eine nicht live übertragene Zeremonie direkt vor der Gala. Das hatte nicht nur zu Unmut in den betroffenen Gewerken geführt, sondern war nun auch noch für den TV-Zuschauer verwirrend, weil nicht auseinanderzuhalten war, was live gesendet und was wegen Länge zusammengeschnitten war. Die Show wirkte frustrierend zerstückelt, auch durch die eng getakteten Werbeunterbrechungen. Zumindest aber im Saal soll die Stimmung durch gute DJ-Beschallung während der vielen Pausen in der dreieinhalb Stunden dauernden Show hervorragend gewesen sein, berichtete SPIEGEL-Reporter Marc Pitzke von vor Ort. Auf das Publikum zu Hause am Bildschirm übertrug sich das leider nicht.

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Erschwerend kam hinzu, dass es bei den Preisen keine Überraschungen gab: Fast alles wurde so verliehen, wie es Kritiker und Auguren im Vorwege vorhergesagt hatten. (Eine vollständige Übersicht über die Oscargewinner lesen Sie hier). Selbst als am Ende nicht »The Power of the Dog« als bester Film ausgezeichnet wurde, sondern das gefühlige Gehörlosen-Drama »Coda«, war man nicht mehr schockiert: Schon Tage vor der Show hatte sich abgezeichnet, dass Jane Campions revisionistischer Western den meisten der rund 9000 Academy-Mitglieder wohl doch zu kühl und distanziert, zu »Arthouse« gewesen ist, um gewinnen zu können – trotz sagenhafter zwölf Nominierungen und einem ganzen Haufen eingesammelter Preise auf dem Weg zu den Oscars.

Emotionale Zwangsjacke – mal wieder

Wie schon so oft in der Historie entschied sich Hollywood letztlich doch für die emotionale Zwangsjacke und gegen das herausfordernde Kino, so wie einst bei der Niederlage von »Pulp Fiction« gegen »Forrest Gump«, bei »Brokeback Mountain«, der gegen den schnöden »Crash« verlor – oder zuletzt dem Sieg von »Green Book« gegen »Roma«. Für Netflix ist das bitter: Der Streamingdienst hatte sich nach dem »Roma«-Debakel gute Chancen ausgerechnet, erstmals den Oscar für den besten Film zu gewinnen, nun unterlag die Plattform nicht einmal ihrem natürlichen Antagonisten, einem klassischen Hollywoodstudio, sondern der Konkurrenz von Apple TV+. Immerhin bekam Jane Campion für »The Power of The Dog« den Preis für die beste Regie. Die Neuseeländerin, die 1994 mit »Das Piano« einen Oscar für das beste Drehbuch gewann, ist erst die siebte Frau, die in der Regiekategorie nominiert wurde – und die dritte, die gewann.

Oscar-Gewinner im Überblick
  • Bester Film: »Coda« (Lesen Sie hier unsere Rezension)

  • Beste Regie: »The Power of the Dog«, Jane Campion (Lesen Sie hier unsere Rezension )

  • Bester Hauptdarsteller: Will Smith (»King Richard«, lesen Sie hier unsere Rezension)

  • Beste Hauptdarstellerin: Jessica Chastain (»The Eyes of Tammy Faye«)

  • Beste Nebendarstellerin: Ariana DeBose (»West Side Story«, lesen Sie hier unsere Rezension)

  • Bester Nebendarsteller: Troy Kotsur (»Coda«)

  • Bester Ton: »Dune«, Mac Ruth, Mark Mangini, Theo Green, Doug Hemphill und Ron Bartlett (Lesen Sie hier unsere Rezension des Films)

  • Beste Kamera: »Dune«, Greig Fraser

  • Bester fremdsprachiger Film (Auslandsoscar): »Drive my Car« (Japan) (Lesen Sie hier ein Interview mit dem Regisseur)

  • Bester Kurzfilm: »The Long Goodbye«, Aneil Karia und Riz Ahmed

  • Bester Dokumentarfilm – kurz: »The Queen of Basketball«, Ben Proudfoot

  • Bester Dokumentarfilm – lang: »Summer of Soul«, Ahmir »Questlove« Thompson, Joseph Patel, Robert Fyvolent und David Dinerstein (Lesen Sie hier unsere Rezension)

  • Beste visuelle Effekte: »Dune«, Paul Lambert, Tristan Myles, Brian Connor und Gerd Nefzer

  • Bester Animationsfilm: »Encanto«, Jared Bush, Byron Howard, Yvett Merino und Clark Spencer (Lesen Sie hier unsere Rezension)

  • Bester animierter Kurzfilm: »The Windshield Wiper«, Alberto Mielgo und Leo Sanchez

  • Bestes Originaldrehbuch: »Belfast«, Kenneth Branagh (Lesen Sie hier unsere Rezension)

  • Bestes adaptiertes Drehbuch: »Coda«, Siân Heder

  • Bester Schnitt: »Dune«, Joe Walker

  • Beste Filmmusik: »Dune«, Hans Zimmer

  • Bestes Kostümdesign: »Cruella«, Jenny Beavan (Lesen Sie hier unsere Rezension des Films)

  • Bestes Produktionsdesign: »Dune«, Patrice Vermette und Zsuzsanna Sipos

  • Bester Song: »No Time to Die« aus »No Time to Die« von Billie Eilish und Finneas O'Connell (Lesen Sie hier unsere Rezension des Songs)

  • Bestes Make-up / Beste Frisuren: »The Eyes of Tammy Faye«, Linda Dowds, Stephanie Ingram und Justin Raleigh

Das ist ein großer Fortschritt für die erst seit Kurzem diverser und internationaler besetzte Academy, ebenso übrigens wie der Oscargewinn für Ariana De Bose aus Steven Spielbergs Musical-Remake »West Side Story«, die erste queere Afro-Latina, die hier siegte – exakt 60 Jahre nachdem Rita Moreno in derselben Rolle den Nebendarstellerinnen-Preis bekam. De Bose und ihre Kollegin Jessica Chastain, die den Oscar als beste Hauptdarstellerin gewann, hielten berührende Dankesreden. Und auch Troy Kotsur, der gehörlose Darsteller, der für seine Nebenrolle als Vater in »Coda« siegte, sorgte für einen der wenigen bewegenden Momente, als der Saal nach seiner in Gebärdensprache gehaltenen Rede in Jubel ausbrach und viele im Publikum ihren Respekt für seine Leistung zeigten, indem sie beide Hände zur Applausgeste der Gehörlosen erhoben.

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Will Smith – ein zwiespältiger Karrierehöhepunkt

So waren es vor allem wortlose Gesten, die diesen auf reibungslose Effizienz getrimmten Abend prägten, der am Ende doch noch entgleiste: die entwaffnende Emotionalität der mit »Coda« triumphierenden Kreativgemeinde der Gehörlosen und die inkludierende Liebe, die ihnen und ihrem Film entgegengebracht wurde – aber eben auch die Handgreiflichkeit Will Smiths. Wortreich und unter Tränen entschuldigte er sich in seiner Dankesrede bei der Academy und dem Publikum, er habe seine Frau vor dem übergriffigen Witz Rocks beschützen wollen, so wie »King Richard« im Film seine Familie verteidigt habe. Liebe lasse einen verrückte Dinge tun, sagte Smith. Im Dolby Theatre wurde der Vorfall zumindest vor der Kamera totgeschwiegen. Statt des Saales verwiesen zu werden, bekam Smith Standing Ovations für seinen Oscarsieg. Ein zwiespältiger Karrierehöhepunkt.

Selbst Amy Schumer, immer schnell mit einem lockeren Spruch zur Stelle, fiel zum Ohrfeigen-Gate nichts ein, dafür schaffte sie es gegen Ende doch noch, das andere weitgehend beschwiegene Ungeheuer im Saal mit einem hastigen Satz zu erwähnen: den Krieg in der Ukraine. Zuvor hatte es zeitweise gewirkt, als hätte die stets aufs Unpolitische der Zeremonie drängende Produktion »Don't mention the war« als Parole für den Abend verhängt. Schauspielerin Mila Kunis, die in den vergangenen Wochen Millionen an Spenden für ihr Herkunftsland gesammelt hatte, sprach nur von »recent global events« in ihrer kurzen Präsentation eines Preises. Lediglich Branchenveteran Francis Ford Coppola, der 50 Jahre »Der Pate« feiern durfte, rief kurz »Viva Ukraine«. Ansonsten blieb der Krieg der Sprachlosigkeit überlassen: einigen Einstecktüchern in Blaugelb und einer eingeblendeten Schrifttafel, die in einem »Moment der Stille« um Solidarität und Support warb, Hashtag #standwithukraine.

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Vielleicht sagen Taten ja tatsächlich mehr als viele Worte. Aber es ist bestürzend, dass es mit Smiths Backpfeife nun ausgerechnet eine Geste der Gewalt war, die diese auf Gemeinschaft und Zusammenhalt gemünzte Oscarverleihung zum Spektakel machte. Manchen brutalen Realitäten entkommt wohl selbst das ewig eskapistische Hollywood nicht.

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Name: Van Hayes

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